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Chronik der Nähe

Roman

Erschienen am 12.03.2012, Auflage: 1/2012
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492055062
Sprache: Deutsch
Umfang: 218 S.
Format (T/L/B): 2.7 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Leseprobe

Das Schreiben versagt sich mir. Daher Plan der selbstbiographischen Untersuchungen. Nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile. Daraus will ich mich dann aufbauen, so wie einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres aufbauen, womöglich aus dem Material des alten. Schlimm ist es allerdings, wenn mitten im Bau seine Kraft aufhört und er jetzt statt eines zwar unsichern aber doch vollständigen Hauses, ein halbzerstörtes und ein halbfertiges hat, also nichts. Franz Kafka My maxim would be for God's sake write about what you don't know! For how else will you bring your imagination into play? How else will you discover or explore anything? Graham Swift Dienstag Ein Tag ohne Sprechen gilt nicht. Heute Morgen warst du wie zugenäht, nichts gesagt, aber auch gar nichts, so etwas von nichts. Ich wollte deine Lippen auseinanderzerren und die Augenlider hochstemmen, einfach nichts zu sagen, das geht in unserer Familie nicht, vieles geht, aber nicht sprechen: nicht. Großmutter Mutter Kind: wortgewaltig, Lästermäuler, nicht auf den Mund gefallen, Quasselstrippen, Plaudertaschen, Zwitschermaschinen, redselig. Plötzlich schweigen gilt nicht. Wenn du nichts sagst, mache ich es für dich. Mutter bedroht Annie mit dem Tod, das kann sie gut. Ich sterbe, sagt sie zunächst leise, aber es genügt, um den Herzschlag des Kindes zu beschleunigen, um Annie an Mutters Seite zu holen, sie nimmt Mutters Hand und presst sich an ihre Schulter. 'Ich sterbe, das fühle ich, diesmal sicherlich, es ist so weit.' Annie wird totenblass und hängt an Mutters Lippen. Mutter sieht rosig aus, aber ihre Lippen sind trocken, weil sie stoßweise ein- und ausatmet, sie atmet so rasch, dass sie irgendwann keine Luft mehr bekommt und anfängt zu zittern. Da weiß Annie, dass Mutter diesmal wirklich recht hat, jemand, der stöhnt beim Einatmen und stöhnt beim Ausatmen, der macht es nicht mehr lange, Mutter macht es nicht mehr lange. 'Mutter', sagt Annie angstvoll. Mutter sinkt in einen Sessel und packt Annie am Arm, sie hält sie sehr fest, damit sie sich nicht aus dem Staub macht, aber das würde sie nie tun, sie wird die sterbende Mutter nicht allein lassen, sie wird alles für Mutter tun und sie vielleicht retten, wenn sie es erlaubt. 'Ganz allein bin ich', stöhnt Mutter, und nun weiß Annie endlich wieder, was sie zu tun hat. Sie hatte es nur vergessen, das letzte Mal ist eine Weile her, damals hat es geholfen, und es wird wieder helfen, und schon ist Annie nicht mehr so angst und bange, denn sie wird sich anstrengen und wird Mutter wieder retten, wie beim letzten Mal. Auf einmal spürt sie eine Freude, dass sie so viel tun kann für ihre sterbende Mutter. 'Mutter', ruft sie und drängt sich an die Mutter, die sie gleich noch fester umfasst, als wollte der Tod sie von ihrem Kind wegreißen, 'ich habe dich doch so lieb, du darfst nicht sterben.' 'Nein', murmelt die Mutter, 'das glaube ich nicht, keiner ist für mich da, am Ende ist man allein.' 'Doch', ruft Annie triumphierend, sie erinnert sich nun sehr gut an die Worte, die sie zu sprechen hat und immer wieder sprechen wird, 'doch, ich bin bei dir, Mutter, ich liebe dich.' Mutter macht abwehrende Bewegungen mit der Hand und dreht kraftlos den Kopf zur Seite, vom Kind weg. Annie tänzelt auf die andere Seite, hinüber in Mutters Blick, und fasst die abwehrende Hand, hält sie fest und fängt an, Mutter zu streicheln. Mutter atmet laut und schnell, ihre trockenen Lippen stehen halb offen, sie gurgelt aus der Kehle, das gehört alles dazu, wie konnte Annie es vergessen. Sie lässt schnell die Hand los, rennt in die Küche, befeuchtet ein Geschirrhandtuch mit Wasser und ist schon wieder an Mutters Seite, tupft ihre Lippen ab mit dem feuchten Tuch, fasst die Hand, die nun endlich zugreift und das Kind festhält. Mutters Stöhnen wird leiser, sie öffnet die Augen und schaut Annie an, die dem Blick nicht ausweicht. 'Du bist meine Tochter', murmelt Mutter, 'du lässt mich nicht allei

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